Friede den Miesmuscheln
Wer im Spätsommer nach Sylt reist, der kommt an Miesmuscheln kaum vorbei. Sie stehen ganz oben auf den Speisekarten von Restaurants und Fischbuden, frisch vom Kutter und in Brühe gegart sind sie eine besondere Delikatesse.
Doch die Miesmuschelfischerei in der Nordsee hat lange Zeit heftig Gegenwind bekommen. Der hat sich nun gelegt und es herrscht Muschelfriede.
Miesmuscheln sind besondere Meerestiere. Eine einzige Muschel filtert und klärt bis zu 20 Liter Meerwasser pro Tag und spielt daher eine besondere Rolle im Ökosystem Meer. Und Miesmuscheln bewegen sich, anders als Fische, nicht mehr vom Fleck, wenn sie als Jungmuscheln einmal einen geeigneten Platz gefunden haben. Die Fischerei auf Miesmuscheln wird dadurch erheblich erleichtert; man muss ihnen nicht über tausende von Kilometern folgen, um sie zu fangen. Im Gegenteil, man kann sogar beeinflussen, wo sie sich niederlassen, und damit die Ernte erheblich erleichtern.
So ernten heutige Miesmuschelfischer, wie die Brüder Simon und Adriaan Leuschel, ihre Muscheln nicht mehr von wilden Muschelbänken, sondern von eigens angelegten Muschelfeldern auf dem Meeresboden. Dafür werden zunächst an besonders geeigneten Stellen vor der Küste von Sylt Eisenketten ausgebracht und somit eine künstliche Kinderstube für Miesmuscheln angelegt, die sogenannten Saatmuschelgewinnungsanlagen.
Muschellarven, die zunächst als Teil des Planktons im offenen Wasser schwimmen, heften sich irgendwann an einen festen Untergrund, z.B. Steine oder die künstlichen Eisenketten, um dort zur Muschel heranzuwachsen. Sobald die Muscheln robust genug sind, setzen die Fischer sie auf andere Flächen auf dem Meeresboden um, wo sich ein Muschelbett bildet. Dort bleiben sie ungestört für ein ¾ Jahr, bis sie erneut umgesetzt werden an weniger geschützte Stellen, an denen es jedoch mehr Nahrung gibt. Dort können sie in Ruhe bis zur Konsumgröße weiterwachsen, insgesamt bis zu 2,5 Jahre lang.
Sobald 50-60 Miesmuscheln ein Kilo auf die Waage bringen, werden sie geerntet. Dafür werden sogenannte Dredgen ins Wasser gelassen; diese haben Adriaan und Simon mit einer dicken Schicht hängender Gummibänder versehen, die nicht nur den Meeresboden schonen, sondern auch den Beifang von Krebsen und Plattfischen verhindern. Olaf, der Kapitän der 'Simon Alexander', hat auf dem Radar das komplette Muschelfeld im Blick und sieht genau, an welchen Stellen noch Muscheln geerntet werden müssen, wie auf einem Acker an Land. Höchst konzentriert steuert er das Boot über das Muschelfeld und lässt die Fanggeräte langsam zu Wasser, zieht sie maximal eine Minute über das Muschelfeld.
An Bord sortiert ein Kollege den wenigen Beifang an Seesternen und Krabben aus und setzt sie wieder ins Meer zurück. Die Umweltauswirkungen der Fischereiaktivitäten von Adriaan und Simon, die bereits seit 30 Jahren und in zweiter Generation Muschelfischer sind, sind äußerst gering. Der Beifang von Plattfischen, Seesternen und Schwimmkrabben wird weitestgehend verhindert.
Und doch: Miesmuscheln leben im Gezeitenbereich der Nordsee, dem Wattenmeer. Ihre Ernte – ob von wilden Muschelbänken oder von den vom Menschen angelegten Muschelfeldern am Meeresboden – ist, so vorsichtig sie auch durchgeführt wird, immer auch ein Eingriff in diesen Naturraum. Und genau darum ranken sich die Konflikte zwischen Umweltschützern und Fischern. Der Clinch, der schon vor Jahrzehnten begann, als die Fischer noch wilde Muschelbänke im Wattenmeer befischt haben, hat sich zugespitzt, seitdem das schleswig-holsteinische Wattenmeer 1985 zum Nationalpark und 2009 zum UNESCO-Welterbe wurde.
Um die offenen Interessenkonflikte nun endlich zu schlichten, wurde im vergangenen Sommer der lang ersehnte „Muschelfrieden“ geschlossen: Ein gemeinsam von Fischern, NGOs, dem Nationalpark Wattenmeer und dem schleswig-holsteinischem Umweltministerium aufgesetzter Vertrag legt fest, in welchen Gebieten die Muscheln aufgezogen und abgeerntet werden dürfen, aber eben auch, in welchen Gebieten nicht, da diese als Nationalpark und UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer unter besonderem Schutz stehen.
Mit diesen vertraglich festgelegten Befischungsregeln für das Wattenmeer war auch die Grundlage dafür gelegt, dass sich die Brüder Leuschel gemeinsam mit den anderen Fischern der Erzeugerorganisation Schleswig-Holsteinischer Muschelfischer in den MSC-Bewertungsprozess begeben konnten. Diesen knapp einjährigen Bewertungsprozess haben die Fischer mit Bravour bestanden. So kann das MSC-Siegel den Muschelfrieden für sie besiegeln.
Muschelfriede und MSC-Zertifizierung sind in trockenen Tüchern – Zeit, mit einem ganz anderen Vorurteil aufzuräumen: In ihrer Muschelbude in Hörnum auf Sylt bieten die Leuschels ihre frischen Miesmuscheln während der gesamten Fangsaison, von Juli bis März an, also keineswegs nur in den Monaten mit R.
„Ich versuche den Deutschen auszureden, man könne Muscheln nur in Monaten mit „R“ essen... Aber dieser Mythos hält sich penetrant und Fischhändler und Supermärkte werden ihre Muscheln immer noch erst pünktlich ab dem 1. September los.“
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