Meeresbiologie am
Ende der Welt
James Simpson vom MSC schloss sich der Besatzung eines arktischen Forschungsschiffes an, um die unzähligen Lebewesen in der Tiefe der Barentssee zu untersuchen.
In einem kleinen Labor im Bauch eines norwegischen Forschungsschiffes untersucht eine Gruppe Wissenschaftler eine seltsame Ansammlung winziger dunkler Flecken. „Es ist auf jeden Fall lebendig,“ sagt der wissenschaftliche Leiter, Knut Sunnanå, „entweder ist es ein Lebewesen oder eine Vielzahl von Lebewesen.“ Aber mehr kann er nicht sagen.
Das war die erste von vielen aufregenden Entdeckungen auf einer zweiwöchigen Forschungsreise in der Barentssee, einem eisigen Gewässer nördlich von Russland und Norwegen, aus dem fast zwei Drittel des britischen Kabeljaus stammen. Wir waren dabei, um mehr über die hochmoderne Wissenschaft zu erfahren, die Licht ins Dunkel dieser mysteriösen Region mit ihrer Vielzahl von heimischen seltsamen Lebewesen bringt.
Ein einzigartiges Ökosystem
Die Barentssee ist etwa 200 Meter tief und beinahe der gesamte Meeresboden ist trüb und schlammig. Aber in einigen wenigen Buchten um Spitzbergen, dem Zielort der Expeditionen, strotzt sie nur so vor Leben und Vielfalt. Dort gibt es Kaltwasserkorallen, Schwammkolonien und außergewöhnliche Lebewesen, die Seefedern genannt werden. Sie sehen wie fragile Farne oder Tulpen aus. Die sich filtrierend ernährenden Kolonien werden leicht von Schleppnetzen beschädigt. Doch sie können auch ihrerseits Netze und Fänge ruinieren, deshalb versuchen die Fischer verständlicherweise, sie zu meiden. Die Besatzung verzeichnet jeden Standort auf einer Karte.
Unser Schiff, die RV Helmar Hanssen, ist ein 63 Meter langer Krabbenkutter, der zur Hälfte Labor und zur Hälfte Universität ist. Es gibt sogar einen kleinen Hörsaal auf dem engen Wohndeck.
Die Besatzung besteht aus Fischern, Doktoranden und Master-Studenten. Jeder hat eine andere Aufgabe bei der Erforschung von Spitzbergens empfindlichen Lebensräumen sowie der Fische und Wirbellosen, die dort leben.
Fischen für die Zukunft
Unter allen Bewertungen des Marine Stewardship Council erreicht Norwegen regelmäßig die höchsten Punktzahlen für sein Fischereimanagement. Die Gründe dafür liegen klar auf der Hand. Die Fischereien hier sind außerordentlich gut reguliert, was der Kabeljau- und Schellfisch-Fischerei der Barentssee vor einem halben Jahrzehnt zur MSC-Zertifizierung verholfen hat.
Beim Verkauf erhält jede Ladung Fisch ein Zertifikat, auf dem steht, wo sie gefangen wurde. Die Zertifikate zeigen einen deutlichen Trend: Da die Winter immer wärmer werden, nimmt die Fischerei nördlich von Spitzbergen deutlich zu.
Diese Entwicklung erregte die Aufmerksamkeit von Greenpeace. Aus Sorge, dass der Rückgang des Meereises neue, zuvor unberührte Gebiete für die Schleppnetzfischerei öffnet, riefen sie Anfang 2016 eine Kampagne für ein Fischfangmoratorium nördlich des 75. Breitengrades ins Leben.
Norwegen hatte bereits ein 14.000 Quadratkilometer großes Gebiet um Spitzbergen für die Fischerei gesperrt und sah sich nun mit weiteren Sperrungen konfrontiert. Doch die Norweger sind pragmatisch. Sie analysierten ihre Daten und sechs Monate später stoppten sie freiwillig jedes weitere Vordringen nach Norden in die arktischen Gewässer, bis ihr Heer von Meeresbiologen mit Sicherheit sagen können, welche Tiere dort leben.
„Hier in Norwegen ist uns klar, dass wir die Fischerei als tragfähige Industrie für die Zukunft schützen müssen. Das bedeutet, dass wir uns um die Fischbestände, um die Fischer selbst und um die Umwelt kümmern müssen.“
Robert Møller, UK Director des Norwegian Seafood Council
Zurück auf dem Meer ist das Team damit beschäftigt, eine Reihe wissenschaftlicher Fangzüge durchzuführen, um zu sehen, was sich unter der Oberfläche befindet. Heute gibt es keine rätselhaften dunklen Flecken und der Fang ist klein – das Schiff ist zu Forschungszwecken und nicht zum kommerziellen Fischfang unterwegs. Als einige Kabeljaue zusammen mit kleineren Fischen und Bruchstücken vom Meeresgrund an Bord geholt werden, machen die Studenten Witze über ein dürftiges Mittagessen am nächsten Tag.
Das Klima ändert sich
Über die Reling des Forschungsschiffes lässt das Team ein seltsames Instrument zu Wasser. Dem Aussehen nach passt es eher zu einer Marsmission als zu einer Reise auf den Meeresgrund. Während es sinkt, misst es verschiedene Werte, darunter den Salzgehalt und die Temperatur des Wassers.
An diesen Daten können die Forscher erkennen, woher das Wasser kommt. In diesem Gebiet stammt es normalerweise aus dem Atlantik. Der Golfstrom verlief früher westlich von Spitzbergen, doch aufgrund des Klimawandels hat er sich weiter nach Osten verschoben und versorgt die Fjorde von Spitzbergen nun mit warmem atlantischen Wasser.
Und mit dem Wasser kommt etwas Neues und beinahe Unsichtbares in diese Gewässer.
„Plankton-Forscher werden Ihnen sagen, dass ihr Forschungsgebiet nicht annähernd so sexy ist wie Wale und Haie, aber dafür ist es das wichtigste.“
Knut Sunnanå
Wie überall im Ozean, ist Plankton auch in arktischen Gewässern die Grundlage für alles. Jede Veränderung hat deutliche Auswirkungen auf die Arten, die sich von ihm ernähren, und damit auch auf weiter oben in der Nahrungskette stehende Organismen.
Nicht alle Veränderungen sind positiv. Das Zooplankton (kleine tierische Lebewesen, die nahe der Meeresoberfläche treiben), das sich mit den warmen Wassermassen nordwärts bewegt, enthält dreimal weniger Fett als seine nördlichen Verwandten. Fettreduzierte Nahrung mag eine gute Sache für überernährte Menschen sein, für Seevögel wie die Eissturmvögel, die über unserem Schiff kreisen, ist sie ein echtes Problem. Plankton mit geringerem Fettanteil bewirkt, dass die Vögel langsamer heranwachsen und insgesamt kleiner bleiben.
Aus diesem Grund ist der Planktongehalt dieser Gewässer enorm wichtig für Sunnanå. Für ihn ist das Plankton ein Maß für die stattfindenden Veränderungen und gleichzeitig ein Indikator für die zukünftige Stärke der Kabeljau-Bestände.
„Wir sind besorgt über die Tatsache, dass sich alles verändert und wie schnell das passieren kann. Obwohl wir einen relativ klaren Langzeittrend haben, können innerhalb weniger Jahre große Veränderungen passieren. Und unter bestimmten Bedingungen kann es zu einem erheblichen Nahrungsmangel im Ökosystem kommen, der durch ein Missverhältnis zwischen Beute- und/oder Raubtieren verursacht werden kann.“
Mut zur Veränderung
Doch es gibt nicht nur schlechte Nachrichten. Einige Arten profitieren davon, dass sich die Meere erwärmen, darunter der Kabeljau. Diese Fische, die vor allem von den Briten für ihr Nationalgericht Fish and Chips geliebt werden, gedeihen in der Barentssee so prächtig, dass große Exemplare inzwischen eher die Regel als die Ausnahme sind.
Der Kern jedes guten Fischereimanagements ist ein gutes Überwachungssystem für Veränderungen und die Fähigkeit, anschließend schnell auf diese zu reagieren, um Fischbestände, Ökosysteme und Lebensräume zu schützen. Mit dem zunehmenden Tempo, in dem sich die Lebensbedingungen in diesem Teil der Arktis verändern, ist es beruhigend zu wissen, dass die Norweger das Steuer in der Hand haben.